too big for anger, too big for blame

M. Steingass —  28.11.15

Neulich Nachts: Das Salz der Erde. Welch ein Spannungsbogen in diesem Film. Viele Szenen bestehen nur aus Schwarzweissfotos.  Sie stammen von Sebastião Salgado und er erzählt von ihnen. Nach circa 2/3 des Filmes gerät man in die Hölle. Wenn man sich nicht gegen das Entsetzen auf diesem Planeten immun manchen kann, kennt man diese Bilder schon. Diese Fotos und ihr Erzähler aber führen auf eine noch andere Art in das Herz der Finsternis. Man ist unvorbereitet, wenn man nichts über den Film weiss. Man merkt zwar wie man hineingezogen wird, kurz bevor die Dunkelheit hereinbricht, aber bis man versteht was wirklich läuft, ist es zu spät. Salgado berichtet, dass er nach dieser Reise und dem was er sah, nicht mehr daran glaubte, dass irgendetwas den Menschen vor dem retten könne, was er anrichtet.

Einige Tage bevor ich den Film sah, las ich von einer Umweltkatastrophe in Brasilien. Der Süße Fluss sei vergiftet. Das Fukoshima Latein Amerikas hies es. Der Rio Doce verwandelt in eine giftige Brühe. 800 Kilometer Arsen, Quecksilber, Blei und was noch alles für Fische, Pflanzen, Menschen. Zu Beginn des Filmes hört man, Salgado sei vom Rio Doce. Ich dachte, oh, der Süße Fluss, da kommt der her… Der Süße Fluss, wie bitter der Name für das was ihm geschieht. Eine rotbraune Giftbrühe die sich nun zum Atlantik wälzt. Und wen wird es interessieren zwischen all den Betrogenen, den Toten und noch Lebenden? Zwischen all den Betrügern?

Salgado erzählt mit ernster Mine. Eine Art gleichmütiger Ernst scheint es zu sein. Und manchmal fast, als ob dieser Ernst doch noch in ein Lächeln übergehen wollte. Das fällt gleich auf. Später wird klar, warum es nicht wirklich kommt. Er hat zuviel gesehen. Aber wie heisst es: You’ve never seen Everyhting. Das ist die bittere Pointe hier. Für den Süßen Fluss, für Salgado, für uns alle. Diese Pointe entsteht aus dem was Salgado tat, nachdem er die Finsternis verlassen hatte und dem was heute geschieht und anzeigt, dass alles überall und zu jeder Zeit bedroht ist.

Salgado und seine Frau haben noch etwas ganz anderes gemacht. Nicht als Reaktion auf die Dunkelheit und auf das Entsetzen, sondern weil es sich so ergab. Niemand wollte etwas retten. Vielleicht geht es einfach darum, dass man tätig sein muss, solange man lebt – was auch sonst!? Das letzte, was einem sonst bliebe, wäre nur noch, sich selbst von allem Tun zu befreien. Also begannen sie Bäume zu pflanzen.

Léila & Sebastião

Léila & Sebastião

Er und seine Frau übernahmen die Ranch, die seinem Vater gehört hatte. Der Boden war verkarstet und der Erosion preisgegeben. Die rote Erde, die nun giftig den Süßen Fluss zum Ozean hinabfliesst, lag offen. Salgado erzählt, dass in seiner Kindheit dort Wald war. Bäche, Teiche, kleine Wasserfälle, das ganze Jahr über. Viele Tiere, Pflanzen, ein Reichtum. Sie begannen Bäume zu pflanzen. 300000. 40% etwa gingen ein zu Beginn. Aber die Bäume wuchsen doch. Heute ist dort wieder Wald. Das Klima hat sich wieder gewandelt. Der Boden kann das Wasser wieder aufnehmen. Die Bäume stehen schon wieder haushoch. Salgado erzählt, dass die Bäume bis zu vierhundert Jahre alt werden. Was wird in vierhundert Jahren sein? Mein Gott…

Man braucht nichts, um weiterzumachen. Aber was sollen wir tun? Es gibt so viele dieser bitteren Zeichen. Dort ist dieser junge Wald und nun bricht ein Damm und vergiftet alles wieder. Das ist zu viel, um darüber nach wütend zu werden. Das ist zu viel, um noch jemanden dafür verantwortlich zu machen. Wen denn? Der Betrüger nannte sich Niemand und so führt der Hilferuf des Betrogenen in die Irre. Niemand hat das getan. Niemand war es. Die Flut wälzt sich durch das Tal und die Luft ist ein Nebel von brennenden Wäldern. Ich kann darin nichts mehr sehen, was ich berühre ist vergiftet, jedes Wort ein Hohn. Die Toten flüstern, wie von weit her, von den Schmerzen und von denen, die sie zurück liessen. Drüben auf einem Feld spielen ein paar Jungs Fussball und ihre Rufe versickern in einer dicken, schwülen Stille. Eine Allee führt zwischen steinernen Wächtern in den Urwald zu alten Tempeln. Ihre Mauern sind von Einschüssen zernarbt. Fast scheinen die Wächter zu lächeln, doch einen Schritt weiter ist ihr Blick ein Fluch. Dunkel, stumm.

Der Wald inspiriert Salgado zu noch einem weiterem Projekt. Er hat viele Jahre die schuftenden und verlorenen Menschen fotografiert, nun will er die Welt an den Orten fotografieren, die unberührt sind von uns. Erstaunlich, dass immer noch die Hälfte des Planeten sich in diesem Zustand befinden soll. Er nennt das Projekt Genesis.

Viele berichten auf ihre Weise. Wie sich das Fantastische dieser Welt paart mit einer erbarmungslosen Raserei. Der Bolzplatz, auf dem die Jungs Fussball spielen, ist umgeben von Mienenfeldern. Ein Blinder sitzt da mit zerschrammtem Gesicht, das eine Bein über dem Knie amputiert. Eine orange lodernde Sonne zwischen wasserfarbenen Wolken und schwarzem Grün : taucht dann in ihr Spiegelbild auf der Oberfläche eines See in einem Bombenkrater.

This is too big for anger,
it’s too big for blame.
We stumble through history so
humanly lame
So I bow down my head
Say a prayer for us all
That we don’t fear the spirit
when it comes to call

:Links:

Sabastião Salgado und Léila Wanick Salgado: Amazonas images

Wim Wenders: Das Salz der Erde

Bruce Cockburn: You’ve Never Seen Everything

Aimorés am Süßen Fluss, Heimat Sabastião Salgados

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