Der folgende Text stammt von den Hauptlehrern der Aro-Gemeinschaft, einer Nyingma-Linie des Tibetischen Buddhismus. Der Text wurde am 8.9.17 auf Facebook von Bar-ché Dorje veröffentlicht und wird hier mit seiner freundlichen Genehmigung übersetzt und veröffentlicht.
Über die Schande und was sie zeitigt
Es ist nicht unser Stil, Andere anzusprechen als unsere Schüler. Allerdings wurden wir um unsere Ansicht über die kürzlich zu Tage getretenen Enthüllungen betreffend Sogyal Lakar und ihre Implikationen hinsichtlich des Vajrayana-Buddhismus gebeten. Einige der Missbrauchten haben uns kontaktiert und wir wollen ihnen helfen, wir wollen aber auch die Funktion des Vajrameisters verteidigen.
Die Enthüllungen über Sogyal Lakar sind nicht neu. Er scheint seit 1976 zunehmend soziopathische Verhaltensweisen gezeigt zu haben. Konkreten Anschuldigungen zu Folge hat er denjenigen Schaden zugefügt, die ihm vertraut haben und er hat den Vajrayana in Misskredit gebracht – in Hinsicht auf ‚verrückte Einsicht‘ (yeshé ’cholwa / primordial wisdom chaos*) und zornvolles Mitgefühl (tröwo tshul). Sein Verhalten kann, auf Grund verschiedener offensichtlicher Gründe, die in diesem Text erläutert werden, weder durch ‚verrückte Einsicht‘ noch durch zornvolles Mitgefühl für rechtmässig erklärt werden.
Während wir diejenigen verteidigen, die missbraucht wurden, wenden wir uns allerdings dagegen, der ‚Funktion des Vajrameisters‘ im Sinne ‚alltäglicher moralischer Kriterien‘ Grenzen zu setzen. Jedes buddhistische Fahrzeug unterscheidet sich in Bezug auf Grund, Pfad und Frucht und Vajrayana setzt keinen exakten Gleichklang mit Sutrayana voraus. Wie auch immer, wir denken, dass Vajrameister fundamental anders verstanden werden müssen, als die Führer eines Kultes. Diese Unterscheidung verlangt von jedem der als Vajrameister agiert sorgfältige Analyse. Niemand ist jedermanns Vajrameister. Die Beziehung zu einem Vajrameister ist eine bestimmte Art von Beziehung, nicht die zu einer Person. Eine Vajraverbidung muss erbeten werden: sie kann nicht einfach dadurch entstehen, dass jemand glaubt, bei einer Einweihung zugegen gewesen zu sein. Es gibt viele Einweihungen, die ohne grosses Nachdenken genommen werden – und es liegt in der Verantwortung des Vajrameisters, dafür zu sorgen, dass niemand diese Vajraverbindung ohne genügende Erfahrung und genügend Studien eingeht. Der Lama trägt die Verantwortung, da er die bessere Einsicht darin hat, wer in eine Vajraverbindung eintreten sollte. Es ist nicht angebracht, Schüler für ihr mangelnde Einsicht zu tadeln.
Es gibt viele grossartige Beispiele in der Geschichte des Vajrayana, in denen Lamas ungewöhnliche Verhaltenweisen zeigten – aber die Ergebnisse waren auch aussergewöhnlich gut. Wenn aussergewöhnliches Verhalten zu Verwirrung und Unheil führt, dann kann das nur auf unzureichende Verwirklichung des Lehrers zurückzuführen sein. Unsere zornvollen Lamas (Chhi’mèd Rig’dzin Rinpoche und Kyabjé Künzang Dorje Rinpoche) haben aussergewöhnliche Verhaltensweisen gezeigt, wir haben das aber immer nur als positiv erfahren. Sie zogen keinen persönlichen Gewinn aus ihren unkonventionellen Handlungen. Beide waren dafür bekannt, Yeshé ’cholwa und Tröwo tshul zu manifestieren, aber keiner von beiden missbrauchte diese Funktion. Beide waren weder auf sexuellen Raubzug aus, noch genusssüchtig, gefrässig, überheblich, narzisstisch, geizig, geldgierig oder sadistisch. Es gibt nichts, was an derartigem Machtmissbrauch ‚verrückte Einsicht‘ ist. Die aufgezählten Charakterzüge sind für Führer eines Kultes typisch. Wir empfehlen diesbezüglich, sich über antisoziale und narzisstische Persönlichkeitsstörungen zu informieren und es wäre gut, wenn jeder seine eigenen Schlüsse daraus ziehen würde. Führer eines Kultes zeigen derartige Störungen beispielhaft – und bei Sogyal Lakar, nach allem was wir wissen, passt in dieser Hinsicht alles.
Der Führer eins Kultes verhält sich vorhersehbar. Yeshé ’cholwa (verrückte Einsicht) aber ist nicht klassifizier- oder definierbar. Es ist nichts Unvorhersehbares an sexuellem Missbrauch, Sadismus, finanzieller Ausbeutung, launischem Getue oder körperlicher Gewalt. Yeshé ’cholwa ist nicht stereotypisch oder klischeehaft. Das Verhalten von Sogyal Lakar sollte daher nicht in Begriffen von Yeshé ’cholwa beschrieben werden. In der Nyingma-Tradition gibt es reichlich wundervolle Beispiele für Meister von Yeshé ’cholwa – Sogyal Lakar gehört nicht dazu. Wir übrigens auch nicht. Was wir zu sagen haben ist selbstverständlich – und das verlangt von uns keinerlei besondere Verwirklichung.
Die acht Schüler, die sich mit einem Bericht über erkennbar soziopatisches Verhalten an Sogyal gewendet haben, haben keine Eide gebrochen. Man kann keine Eide brechen, die man gegenüber einem Eidesbrecher gegeben hat. Sogyal Lakar hat seine Eide gegenüber Kyabjé Düd’jom Rinpoche in den späten 1970ern gebrochen. Er hat Ögyen Chöling Düd’jom Rinpoche geschenkt, als er aber von diesem dazu aufgefordert wurde, vor der Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit, zu studieren und Retreaterfahrung zu sammeln, brach er mit seinem Lama, zog sein Geschenk zurück und organisierte seine Praxis hinsichtlich seiner Loyalitätspflicht neu.
Manche äussern sich zur Schande von Sogyal Lakar, indem sie die Funktion des Varameisters als mittelalterlich bezeichnen. Dies aber zieht nicht das ‚Prinzip und den Zweck‘ dieser Funktion in Betracht – und es entlastet den Mann, indem es den Vajrayana für schuldig erklärt. Unsere Lamas haben sich nie wie mittelalterliche Theokraten aufgeführt, ebensowenig wie die führenden Köpfe der Nyingma-Tradition. Vajrameister und Hierarchen aus feudalen Zeiten mögen oberflächlich gesehen Ähnlichkeiten haben, aber egal was man an aussergewöhnlichen Sachen macht, man wird immer irgendwelche Ähnlichkeiten entwickeln: in den Künsten oder da, wo man ein Risiko eingeht – beim Klettern zum Beispiel. Wenn jemand den Willen hat, über die durchschnittliche Erwartung hinauszuwachsen, braucht es besondere Umstände und Vertrauen. Sich einem Ausbilder zu fügen, wenn man auf der äussersten Kante eines Kliffs steht, ist vernünftig. Gehorsam aber gegenüber Einem der Andere sexuell ausbeutet ist unsinnig – besonders wenn dafür dubiose Erklärungen mit Bezug auf den Vajrayana gegeben werden.
Sexualität ist eine zulässige Form der Einweihung – hat aber jemals Sogyal Lakar derartige ‚Einweihungen‘ unansehnlichen oder alten Frauen gegeben? Wie auch immer das sein mag, solche Einweihungen sind selten und deren Empfänger müssen nonduale Erfahrung haben, die Jahre an Praxis und Retreat voraussetzt. Schlanke, im gewöhnlichen Sinne hübsche, junge Frauen als Dakinis zu ‚erkennen‘ war die verderbte Verführungsmasche des Sogyal Lakar.
Sogyal Lakar ist nicht überall als Inkarnation von gTértön Sogyal anerkannt. Chhi’mèd Rig’dzin Rinpoche und Künzang Dorje Rinpoche hielten es beide für ausgeschlossen. Sie haben viele andere Lamas in diesem Sinne zitiert, unter anderen Düd’jom Rinpoche, Chatral Rinpoche und den 16. Gyalwa Karmapa. Wir würden die Frage der Legitimität nicht ansprechen, wenn Sogyal Lakar ein netter Herr wäre, der der Tradition der Nyingmas selbstlos dienen würde – das allerdings scheint alles andere als der Fall zu sein.
Rückmeldungen hierzu mögen in Bezug auf unsere Sichtwiese erfolgen – wir werden aber nicht in eine öffentliche Debatte eintreten. Das überlassen wir denjenigen, die unsere Sichtweise öffentlich machen. Wir fühlen uns verpflichtet, alle jene, die von Sogyla Lakar missbraucht wurden, zu unterstützen und zu ermutigen. Alle Aro gTér-Lehrer werden ein offenes Ohr für Rigpa-Schüler haben, um sie zu unterstützen – ohne Verpflichtung und ohne einen Gedanken an Werbung.
Ngak’chang Rinpoche and Khandro Déchen
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* so im Original